Sind Pandemien Lokomotiven der Sprachgeschichte?

„Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte“, lautet ein berühmter Ausspruch von Karl Marx. Kann man dies auch auf die Sprachgeschichte übertragen? Und was sind deren Lokomotiven? Eine neuere These besagt, dass Pandemien, Kriege und andere “revolutionäre” Ereignisse mit starker Auswirkung auf die Demografie sprachhistorisches Geschehen in Gang setzen können.

Verändert sich die deutsche Sprache durch die Corona-Pandemie? Diese Frage ist weniger abseitig, als es auf den ersten Blick erscheint. Und ich meine damit keineswegs das Aufkommen neuer Wörter, wie sie im Neologismenwörterbuch des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache gesammelt werden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob eine Pandemie in der Lage ist, eine Sprache so zu beeinflussen, dass aufgrund von Veränderungen im Lautsystem, in der Morphologie und vielleicht sogar in der Syntax eine neue, abgrenzbare Entwicklungsepoche der Sprache eingeläutet wird.

Wenn man Germanistik studiert und sich mit der deutschen Sprachgeschichte befasst, ist es leicht, sich deren verschiedene Epochen einzuprägen. Es beginnt ab der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts mit den ersten schriftlichen Zeugnissen, in denen die Abtrennung des Althochdeutschen von einer germanischen Ursprache dokumentiert ist. Um 1050 wird der Wechsel zum Mittelhochdeutschen angesetzt, um 1350 der zum Frühneuhochdeutschen. Ab etwa 1650 spricht man schließlich vom Neuhochdeutschen. 750, 1050, 1350, 1650 – die Entwicklung des Deutschen scheint sich in 300-Jahre-Schritten zu vollziehen. Und auch seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind Entwicklungen zu beobachten, die es für manche gerechtfertigt erscheinen lassen, auch das Neuhochdeutsche nach 300 Jahren von einer neuen Sprachstufe, dem “Gegenwartsdeutschen”, abzugrenzen. All diese Sprachstufen weisen linguistische Eigenschaften auf, durch die es möglich ist, ihnen Sprachbelege recht eindeutig zuzuordnen.

Was hat die Epochenumbrüche bewirkt?

Diese unter Germanistinnen und Germanisten weitgehend anerkannte Periodisierung lässt die Frage aufkommen, was denn eigentlich dafür ausschlaggebend ist, von einer Sprachstufe zur nächsten zu gelangen. Der Sprachhistoriker Jörg Riecke, Germanistik-Professor an der Universität Heidelberg und im letzten Jahr leider viel zu früh verstorben, hat dazu eine interessante These aufgestellt[1]. Er stellt fest, dass mit jedem dieser Epochenwechsel umfangreiche demografische Veränderungen in der Sprachgemeinschaft einhergingen. Um 750 war es die Völkerwanderung, um 1050 Epidemien und Hungersnöte, 1350 der Schwarze Tod, die europaweite Pest-Pandemie, um 1650 die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs und um 1950 die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs.

Die historischen Einschnitte von 1350 und 1650 sind inzwischen recht gut untersucht. In beiden Fällen sind in manchen Landstrichen 70 bis 90 Prozent der Bevölkerung umgekommen, und die Wirtschaftsleistung ist jeweils so stark zurückgegangen, dass Verödung und Hungersnöte die Folge waren. Im europäischen Durchschnitt wurden um 1350 ca. 60 Prozent der Menschen dahingerafft[2], um 1650 wohl etwa 40 Prozent[3]. Ein derartiger demografischer Aderlass könnte durchaus ein Motor für die deutlichen sprachlichen Veränderungen gewesen sein, die in den überlieferten Sprachzeugnissen jener Zeit dokumentiert sind.

Jörg Rieckes These

Riecke schreibt in seiner Sprachgeschichte bezüglich des Einflusses dieser starken Veränderung der Bevölkerungsstruktur auf die Sprachentwicklung:

“Dafür muss man zwei Dinge voraussetzen: Offenkundig wandelt sich Sprache permanent, Sprache bleibt nie über einen längeren Zeitraum konstant. Ständig bilden sich Neuerungen. Eine andere Frage ist allerdings, wie viele dieser Neuerungen sich jeweils etablieren und in welcher Geschwindigkeit dies geschieht. Man kann sich leicht vorstellen, dass sich in Zeiten von Krisen und Katastrophen, die stets zu großen demographischen Veränderungen und mit ihnen zur Auflösung sozialer Ordnungen führen, Neuerungen viel leichter und schneller durchsetzen. In demographisch und politisch stabilen Gesellschaften, in denen Traditionen für gewöhnlich eine große Rolle spielen, können sich Neuerungen dagegen vermutlich nur sehr viel schwerer ausbreiten. Demografischer Wandel verursacht also keinen Sprachwandel, aber er verhilft den sich ohnehin beständig vollziehenden Neuerungen zu ihrem Durchbruch.” (Riecke 2016, 39)

Ist die Sache damit also klar? Nicht ganz. Zwar war die Todesrate 1350 im europäischen Schnitt so enorm hoch, aber gerade im deutschsprachigen Raum gab es große Gebiete, die weit unterdurchschnittlich getroffen wurden. Was aber in jedem Fall geschehen ist, ist der umfassende Wandel der gesellschaftlichen Ordnung, der zum Teil nur mittelbar auf die eigentlichen Katastrophen zurückgeführt werden kann. Nach 1350 veränderte sich die Position der Kirche, und es begann der Aufstieg der Städte. Nach dem Westfälischen Frieden 1650 entstanden Nationalstaaten in Europa und das Bürgertum entwickelte sich.

Rieckes These könnte sich also bestätigen lassen, wenn man die Verbindung nicht zu direkt zu den historischen Katastrophen zieht, sondern stattdessen zu den Folgen, die diese nach sich gezogen haben. Diese sozialen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Folgen lassen sich sehr wohl mit den Epochenwechseln in der Sprachgeschichte in Verbindung bringen. Und dass dies auch für die zentrale Katastrophe Mitte des 20. Jahrhunderts so zu gelten hat, ist evident.

Kann die Corona-Pandemie Sprachwandel bewirken?

Was heißt das nun für die „andere“ Pandemie, die wir gerade erleben? Glücklicherweise liegt die Sterblichkeit weit, weit unter der des Schwarzen Todes. Die gewaltigen demografischen Veränderungen, die die Pest um 1350 verursacht hat, werden heute nicht stattfinden. Und doch ist überall zu hören, dass nichts so bleiben wird, wie es einmal war: Wenn wirklich die Art, wie wir arbeiten, reisen und miteinander umgehen, dauerhaft anders wird, wenn tatsächlich Tendenzen der Deglobalisierung verstärkt werden, sich alternative Kommunikationsweisen etablieren und soziale Strukturen verschieben, dann mag das dazu führen, dass sich auch sprachliche Neuerungen etablieren können, die es ohne Corona schwer gehabt hätten.

Wir werden es verfolgen.

 


Beitragsbild: “Boccaccios ‘Pest in Florenz im Jahr 1348’” von Luigi Sabatelli (Ausschnitt). Quelle: Wikipedia, CC BY 4.0.

[1] Jörg Riecke: Geschichte der deutschen Sprache. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam 2016, S. 39ff.

[2] Ole J. Benedictow, The Black Death 1346-1353: The Complete History. Woodbridge: Boydell Press 2012, S. 380ff.

[3] Georg Schmidt: Der Dreißigjährige Krieg. München: Beck 2010, S. 91f.

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www.lobin.de

Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

8 Kommentare

  1. Vor der Pest 1350 hatten in Europa nur Reiche/Klöster Zugriff auf Literatur – welche damals noch hauptsächlich auf Pergament geschrieben war; wodurch die Anzahl der verfügbaren Exemplare sehr stark begrenzt war. Zudem war Latein die Sprache der Gebildeten – wodurch große Teile der Bevölkerung von Information ausgeschlossen war.

    Mit der Pest starb ein Teil der gebildeten Schicht *) – aber viel wichtiger für die Weiterentwicklung der Sprachen in Europa war es, dass nun Papier zur Verfügung stand. Jetzt konnten viele Ideen von verschiedenen Menschen preiswert notiert und verbreitet werden:
    1150 erste europäische Papiermühle in Xativa/Spanien
    1390 erste deutsche Papiermühle in Gleismühl bei Nürnberg

    ( *) z.B. ab Mitte des 14. Jhdts. wurde in England von Gelehrten, bei Gerichten und am Hof verstärkt Englisch statt Französisch oder Latein gesprochen/geschrieben)

    Sollte sich aktuell der Sprachgebrauch ändern – dann wohl weniger wegen der Covid-19-Pandemie sondern deswegen, weil mit dem Internet eine neuartige Möglichkeit besteht, Informationen zu verbreiten.

    • Äußerst detailliert beschreibt Peter von Polenz Veränderungen von Sozialstrukturen, Medienentwicklungen, Bildungspolitik, Bemühungen um Sprachstandardisierung, Sprachkritik und Sprachunterricht etc. als Bedingungen für Sprachentwicklungen (Peter v. Polenz, Deutsche Sprachgeschichte, 1991-1999; leider erst ab dem Spätmittelalter). Wie im Artikel angedeutet, geht es bei der Beobachtung des Corona-bedingten Sprachgebrauchs auch um die Unterscheidung zwischen Veränderungen des Sprachgebrauchs / der Sprechweisen (z.B. neue Wortbildungen nach alten Mustern, kurzfristige Implementierungen von Fachbegriffen) einerseits und sich etablierenden Sprachveränderungen (nach dem Piotrowskij-Gesetz in Wortschatz, Syntax, Morphologie) andererseits.

    • Ja, aber wir schnell werden sich diese Entwicklungen verfestigen? Rieckes These besagt, dass demografische Umwälzungen die anderweitig in Gang gesetzten Prozesse beschleunigen.

  2. “Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte”. Da verstehe ich K. Marx anders als sie. In seinem philosophischen Sinne sind Pandemien keine Revolutionen, da er diese auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht. So war die Franz. Revolution 1789 eine “Lokomotive” da die Herrschaft des Feudaladels von den Werten des Bürgertums ersetzt wurde. Der königlichen Alleinherrschaft folgten sozusagen Grundstrukturen einer Demokratie. Revolution also im Sinne eines gewaltsamen Umsturzes alter überlebter gesellschaftlicher Ordnungen. Pandemien bzw. Kriege können diese revolutionäre Situation höchstens fördern indem sie die gesellschaftlichen Widersprüche noch verschärfen , was dann das Fass schneller zum überlaufen bringt. Marx hat also die Revolution in seinem Sinne des Kampfes gesellschaftlicher Systeme (Sklavenhaltertum /Feudalismus/ Kapitalismus) eingeordnet. Guttemberg hat die Schrift nicht wegen der Pest erfunden sondern weil die Zeit, der Zeitgeist, für solche Entwicklungen -auf Grund der weltweiten Handelsbeziehungen – dafür reif war und in China solche Druckereien damals schon gegeben waren. Auch die Pest-also diese Pandenmie -war ja lediglich ein Produkt dieser erweiterten Handelsbeziehungen, wurde sie doch aus Asien eingeschleppt. Sie ist also nicht die Ursache sondern lediglich ein Ergebnis.

    • Es wäre zu erörtern inwieweit historische Epidemien, es geht hier um Lokales, also nicht um Pandemien, lokale Staatsgebilde verändert haben, so dass sich die Herrschaftsform geändert hat.
      Änderung der Staatsform, der Herrschaftsform, bedeutet immer auch deutliche Änderung der Sprache.

    • Ich behaupte nicht, dass richtige Revolutionen die Sprachgeschichte beeinflussen. Ich frage vielmehr am Anfang des Beitrags, was denn in der Sprachgeschichte das ist, was in der allgemeinen Geschichte die Revolutionen als Lokomotiven sind.

      • sehr geehrter herr lobin,
        mein handgelenk ist gebrochen, deshalb verzichte ich auf großbuchstaben. die frage, inwieweit sprache sich angesichts der derzeitigen situation verändert, halte ich für weniger wichtig als die frage, inwieweit sich das verständnis von sprache ändert.
        bei dem portal pedocs kann man meinen artikel “brauchen schüler wissenschaftsgeschichte und wenn ja, welche?” lesen. ich beabsichtige, ihn ins französische übersetzen zu lassen, denn ich habe von einer kapazität der sorbonne eine mail erhalten, die vor allem die angst des schreibers vor veränderungen offenbart.
        mehr kann ich an dieser stelle nicht schreiben, aber unter meinem namen findet man leicht meine email-adresse im internet.

        mit freundlichen grüßen, claudia heufers-darkwa

  3. Demografischer Wandel verursacht also keinen Sprachwandel, aber er verhilft den sich ohnehin beständig vollziehenden Neuerungen zu ihrem Durchbruch. [Zitat, Artikeltext, Jörg Riecke]

    “Demographischer Wandel” ist sicherlich eine zentrale Antriebsfeder des Sprachwandels, was auch damit zusammenhängt, dass andere Kultur emergiert und sich in der Sprache der Aufnehmenden verständlich macht, als Beweis sozusagen will Dr. Webbaer dieses Ranking anführen :

    -> https://www.offiziellecharts.de

    Die bundesdeutschen Musikcharts sind gemeint, die sich, öh, öh, von den Charts früherer Jahrzehnte deutlich unterscheiden, gerade auch die Texte meinend.

    Pandemien, national sind es Epidemien, ändern ebenfalls, bspw. hasst (nur ein Jokus, Dr. Webbaer hasst fast nie, er verachtet nur nicht selten) der Schreiber dieser Zeilen die sogenannte politische Richtigkeit wie die Pest, könnte sozusagen Krätze von ihr bekommen, und absentiert, covidiert dann zusagen, wenn derartige Sprachregelung pflichtig wird.

    Alles, was das erkennende Subjekt erlebt, ändert seine Sprache, führt zu neuen Begriffen, zu neuen Metaphern und insofern ist in der Sprachlichkeit konzeptuelles Wissen der Altvorderen sozusagen gekapselt.
    Es macht aus diesseitiger Sicht keinen Sinn gesellschaftliche Entwicklung, auch : sprachliche, zu diskontieren, so als ob neu Hinzugekommenes bei den Aufnehmern sozusagen intrinsisch bereits geschlummert hätte.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

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