Warum Sprachkampf? Ein Erklärungsversuch mit Andreas Reckwitz’ Gesellschaftsanalyse

Kontroversen wie die um gendergerechten Sprachgebrauch haben eindeutig eine politische Dimension. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Jenseits der politischen Auseinandersetzung stellt sich die Frage, in welcher Weise die verschiedenen Positionen in der Gesellschaft verankert sind und warum die Kontroversen überhaupt entstehen. Die Analyse der postindustriellen Gesellschaft des Soziologen Andreas Reckwitz bietet dafür die Möglichkeit einer Erklärung.

Vor kurzem ist mein neues Buch „Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert“[1] im Dudenverlag erschienen. Darin geht es um aktuelle sprachliche Kontroversen und wie diese von der Neuen Rechten dazu genutzt werden, ihre allgemeinpolitischen Anliegen zu vermitteln. Derartige Kontroversen sind zum Beispiel die „politisch korrekte“ Sprache und besonders der gendergerechte Sprachgebrauch. Auch von den Befürworterinnen und Befürwortern werden mit solchen „emanzipatorischen“, identitätspolitisch motivierten Themen allgemeinere politische Ziele verfolgt. Manche derjenigen, die diese sprachpolitischen Entwicklungen ablehnen, stellen die angeblichen Folgen davon aber in überzeichneter Weise dar: Die Zerstörung der deutschen Sprache sei unausweichlich, ein moralischer Zwang werde ausgeübt, eigentlich gehe es um die Ablenkung von ganz anderen, radikalen Zielen usw.

In meinem Buch lenke ich den Blick darauf, wie eine in dieser Weise artikulierte Kritik nicht nur die Sprache selbst betrifft, sondern längst programmatisch vorgeformt ist, um aus derartigen Auseinandersetzungen politische Energie zu gewinnen. Dies ist am deutlichsten bei der AfD zu sehen, die in ihrem Grundsatzprogramm von 2016 mit 13 sprachpolitischen Positionen weitaus stärker auf das Thema Sprache setzt als alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien. Diese Positionen, zu denen prominent auch die Forderung der Aufnahme des Deutschen als Staatssprache ins Grundgesetz gehört, werden konsequent in Gesetzesinitiativen und Anfragen in die Arbeit des Bundestags und der vielen Landesparlamente eingebracht, denen die AfD angehört.

So wie die sprachpolitischen Zielsetzungen auf der linken Seite des politischen Spektrums durch eine emanzipatorische Identitätspolitik motiviert sind, so wird auf der rechten Seite eine Verbindung der sprachpolitischen Positionen zu einem soziokulturellen Identitätskonzept hergestellt: Die deutsche Sprache sei das Zentrum unserer nationalen kulturellen Identität, heißt es bei der AfD etwa an verschiedenen Stellen. Die Kontroverse zwischen diesen politischen Grundpositionen zur gesellschaftlichen Rolle der deutschen Sprache wird gegenwärtig mit großer Vehemenz ausgetragen. Dabei muss die parteipolitisch organisierte nationalidentitäre Position in meinen Augen als wesentlich einflussreicher angesehen werden, als dies allgemein angenommen wird, da sie programmatisch kohärent vertreten wird, parlamentarisch breit verankert ist und durch ein gut organisiertes Netz von Medien und Vereinigungen flankiert wird. Bei den Grünen hingegen finden sich Positionen zu diesen Kontroversen im neuen Parteiprogramm aus dem Jahr 2020 mit keinem Wort, und die SPD zerfleischt sich auf der Suche nach Antworten auf diese identitätspolitisch hochgradig aufgeladenen Fragen gerade selbst.

Andreas Reckwitz‘ Analyse der postindustriellen Gesellschaft

Wenn politische Positionen klar benannt sind, ist es nicht besonders schwer, die damit verbundene Kontroverse nachzuzeichnen. Und natürlich verfolgen politische Akteure bestimmte politische Interessen. All dies zu beschreiben hatte ich mir in meinem Buch zum Ziel gesetzt. Womit ich mich aber nicht befasst habe, ist die Frage, auf welcher gesellschaftlichen Grundlage diese politischen Prozesse eigentlich stattfinden. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen, die zur deutschen Sprache ausgetragen werden, besitzen ja keineswegs nur eine politische Dimension, sondern werfen in gesellschaftlicher Hinsicht die Frage auf, wer sich in welcher Weise positioniert und warum. Deutlich erkennbar ist jedenfalls eine Polarisierung zwischen denjenigen, die etwa gendergerechte Sprache ablehnen, und ihren Befürwortern. Wie also sieht die gesellschaftliche Verankerung der verschiedenen Positionen aus?

Ich bin Sprachwissenschaftler, kein Soziologe, und will deshalb auch keine Spekulationen zur Entwicklung der Gesellschaft anstellen. Umso hilfreicher ist es deshalb, ein neueres Werk zur Hand nehmen zu können, das diese Entwicklungen in ihren verschiedenen Facetten in überzeugender Weise beschreibt. Der Berliner Soziologe Andreas Reckwitz, bekannt geworden durch das preisgekrönte Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“[2], hat 2019 mit „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“[3] eine Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen der Gegenwart vorgelegt, die einen Zugang auch zu den Grundlagen aktueller Sprachkämpfe eröffnet.

Reckwitz beschreibt in seinem Buch den Wandel der modernen Industriegesellschaft hin zu einem spätmodernen „kognitiv-kulturellen“ Kapitalismus, der die Gesellschaft strukturell, kulturell und politisch prägt. Die weitgehend nivellierte Mittelstandsgesellschaft der drei Nachkriegsjahrzehnte hat sich danach seit den 1980er-Jahren ausdifferenziert in eine Gesellschaft, die im Wesentlichen durch den Antagonismus zwischen einer neuen und einer alten Mittelklasse geprägt ist. Während die alte Mittelklasse mit einem graduellen Abstieg ihres Wirtschafts- und Wertesystems zu kämpfen hat, ist die neue Mittelklasse mit ihren Ansprüchen kultureller Selbstverwirklichung und der Lebenswelt eines urbanen Kosmopolitismus im Rahmen einer beständig wachsenden Wissensökonomie in kontinuierlichem Aufstieg begriffen.

Als Grund für diese Entwicklung nennt Reckwitz die „Sättigungskrise“ industrieller Massenproduktion, durch die die Entstehung „kultureller Güter“ und eine immer stärkere Aufladung von Produkten, Dienstleistungen und Ereignissen durch immaterielle Werte hervorgerufen wurde. Die wachsende Bedeutung des kognitiv-kulturellen Anteils an der postindustriellen Produktion ist es auch, wodurch der Bedarf an Menschen steigt, die Kompetenzen in Recht, Marketing, Design, Wissensaufbereitung und -vermittlung oder anderen „kognitiv-kulturellen“ Bereichen besitzen, die mehrsprachig kommunizieren können, mobil arbeiten, international ausgerichtet und an gesellschaftliche wie kulturelle Vielfalt gewöhnt sind. Solche Menschen haben eine akademische Ausbildung durchlaufen und leben überwiegend in den Metropolregionen, wo sie nach Reckwitz‘ Analyse von einer ebenfalls durch Mobilität geprägten „prekären Klasse“ mit einfachen Dienstleistungen versorgt werden.

Die alte Mittelklasse hingegen, eher regional als in den Metropolen verankert, ist mit der schleichenden Abwertung in die kulturelle Defensive geraten, da traditionelle Auffassungen von Sesshaftigkeit, Ordnung und Selbstdisziplinierung in der Spätmoderne brüchig geworden sind. Durchzogen ist diese Ausdifferenzierung in eine alte und eine neue Mittelklasse zudem von einem Wandel des Rollenverständnisses der Geschlechter, Migration und von dem wachsenden Gegensatz von ländlich-kleinstädtischen gegenüber großstädtischen Regionen. 

Grundlegende Kulturauffassungen: Hyperkultur und Kulturessenzialismus

Reckwitz zeigt zudem, wie diese gesellschaftliche Entwicklung von unterschiedlichen kulturellen Grundauffassungen begleitet wird, die er als „Hyperkultur“ und „Kulturessenzialismus“ bezeichnet. Hyperkultur als Lebensstil der neuen Mittelklasse ist durch ein Nebeneinander verschiedenster Produkte, Erlebnisse und Stile zur Ästhetisierung und kulturellen Aufwertung des Alltags gekennzeichnet – mir selbst tritt dabei beispielhaft das Lufthansa-Magazin vor Augen. Dies geht einher mit der Unterordnung tradierter kultureller Wertesysteme unter den dominanten Anspruch der „Selbstverwirklichung“.

Mit dem Konzept des Kulturessenzialismus hingegen verbindet Reckwitz die Orientierung an etablierten Wertesystemen, wie sie etwa durch Religionen repräsentiert werden. Aber auch die traditionellen Wertvorstellungen des Bürgertums mit der Akzentuierung eines anerkannten Bildungskanons lassen sich kulturessenzialistisch deuten, da sie Orientierungspunkte bieten, aus denen wiederum Bewertungen und Entscheidungen im alltäglichen Handeln hervorgehen. In politischer Hinsicht kann dies durchaus im konservativen Sinne ausgedeutet werden, aber auch in einem „klassisch“ linken Sinn, wenn tradierte Wertvorstellungen des Kleinbürgertums oder der Arbeiterschaft herangezogen werden.

Reckwitz‘ befasst sich in seiner Gesellschaftsanalyse auch mit den Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf die politischen Entwicklungen der letzten Jahre: “Zugespitzt lassen sie sich als Krise jenes westlichen Liberalismus interpretieren, der seit den 1980er Jahren in verschiedenen Versionen die politische Agenda geprägt hat. Ihr wichtigstes Symptom ist das, was man als internationale populistische Revolte zusammenfassen kann: eine vielschichtige Bewegung gegen die liberal geprägten Funktionseliten und deren ökonomische wie kulturelle Hegemonie im Namen eines imaginierten ‚Volkes‘.” [S. 239]

Dabei geht es Reckwitz nicht um eine Verortung dieser „populistischen Revolte“ im Spektrum zwischen links und rechts, vielmehr sieht er seit etwa 2010 das „Paradigma eines apertistischen (‚öffnenden‘) Liberalismus“ unter Beschuss, das in den 30 Jahren zuvor in den westlichen Ländern sowohl in Mitte-links- wie Mitte-rechts-Versionen seine politische Umsetzung erfahren hat.

Differierende sprachliche Erfahrungsräume und Wertvorstellungen

Was kann uns diese umfassende Gesellschaftsanalyse zu einer so speziellen Frage wie dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Sprache sagen? Zunächst fällt auf, dass der neuen Mittelklasse Eigenschaften zugeschrieben werden, die typischerweise auch mit einem „sprachlich progressiven“ Milieu verbunden werden. Reckwitz ordnet unter anderem die in der Sinus-Studie[4] so definierten Milieus der „Liberal-Intellektuellen“[5] und der „Sozialökologischen“[6] der neuen Mittelklasse zu (S. 124).

In sprachlicher Hinsicht lässt sich konstatieren, dass die Erfahrung von Internationalität in diesen Gruppen durch Mehrsprachigkeit begünstigt wird und das berufliche Umfeld dieser Milieus geprägt ist durch „sprachintensive“ Tätigkeiten, etwa im Rechts-, Wirtschafts-, Forschungs- oder Bildungsbereich, die zudem intensive kommunikative Kooperationserfordernisse aufweisen. Diese Milieus sind es, in denen gendergerechter Sprachgebrauch eher befürwortet wird und in denen man ihn praktiziert, weil es zu der eigenen Gesellschaftsvorstellung passt und die Bereitschaft zu Veränderung und Aufbruch ausdrückt.

Dass derartige Impulse in der alten Mittelklasse fehlen, kann erklären, dass aus dieser keine Initiativen zu expliziten sprachlichen Veränderungen hervorgehen. Die „Konservativ-Etablierten“[7] und die „Traditionellen“[8], vielleicht auch die „Bürgerliche Mitte“[9], wie die Milieus der alten Mittelklasse von Reckwitz mit Bezug auf die Sinus-Studie genannt werden, setzen eher auf Besitz und Bewahrung im materiellen wie im kulturellen Sinne. In sprachlicher Hinsicht mag dies mit dem Bewusstsein von in langen Bildungsprozessen erworbenen Kompetenzen, etwa bezüglich des normgerechten Schreibens oder fachsprachlicher Terminologien, einhergehen.

Sprachliche Kontroversen als symbolische Hegemonialkämpfe einer geteilten Mittelklasse

Mit diesen differierenden Erfahrungen kann jedoch nicht erklärt werden, dass der Gegensatz der Wertvorstellungen zwischen der alten und der neuen Mittelklasse auch eine aktiv ausgetragene Kontroverse begründet. Die Attribute des Lebensstils der neuen Mittelklasse haben sich, wie Reckwitz es darstellt (prototypisch das durch „Selbstverwirklichung“ geprägte Leben in der städtischen Altbauwohnung und dem Drang nach „singulären“ Dingen und Erlebnissen), zwar als attraktiv und besonders erstrebenswert durchgesetzt und damit den Lebensstil der alten Mittelklasse (etwa das „geordnete Leben“ in suburbanen Wohngebieten mit Haus, Auto und lokaler familiärer Verankerung) teilweise entwertet. Damit solche Gegensätze als Impuls zu einer offen ausgetragenen Kontroverse wirken, muss jedoch mehr passieren, müssen grundlegende Auffassungen zur kulturellen Lebenswelt miteinander in Konflikt geraten. Ich denke, dass ein strittiges sprachliches Thema wie das der gendergerechten Sprache dabei einen symbolischen Kampf auszulösen vermag.

Reckwitz‘ Überlegungen zur Entstehung einer Hyperkultur im Gegensatz zu einem Kulturessenzialismus bieten dafür entscheidende Erklärungsansätze. Kulturelle Güter werden in der Hyperkultur zu austauschbaren Gegenständen, die vor allem durch ihren Nutzen bei der Selbstverwirklichung ihren Wert erhalten. Auch das Kulturgut Sprache kann diese Funktion erfüllen, wird aber in den Milieus der neuen Mittelklasse zuallererst als ein disponibles Kommunikationswerkzeug verstanden, das Singularität allenfalls in der identitätspolitischen Aufladung entfaltet. Im Sinne eines Kulturessenzialismus hingegen, der sich mit der alten Mittelklasse verbindet, wird Sprache als ein historisch gewachsener Kulturgegenstand verstanden, mit dem sich klassenspezifische Bildungsansprüche verbinden, der bewahrt und geschützt werden muss und in dem sich eine identitätsstiftende Werthaltigkeit manifestiert.

Sprachkämpfe, allen voran derjenige um gendergerechte Sprache, sind vor diesem Hintergrund weniger als politische Auseinandersetzungen zu verstehen, sondern als symbolische Hegemonialkämpfe zwischen einer alten und einer neuen Mittelklasse. In der kulturellen Stilisierung der deutschen Sprache auf der einen Seite und ihrer aktiven Veränderung auf der anderen Seite geht es womöglich um viel mehr als „nur“ um längst schon brüchig geworden Positionierungen zwischen rechts und links. Es stehen sich ganze Milieus gegenüber, Teile der gesellschaftlich dominierenden Mittelklasse, die sich in ihrer Verbitterung aufgrund ihres kulturellen und ökonomischen Abstiegs einerseits und in ihrem stolzen Selbstbewusstsein, das Neue und Gerechte auf der eigenen Seite zu wissen, andererseits einen exemplarischen Entscheidungskampf um die kulturelle Vorherrschaft in einer zukünftigen Gesellschaft liefern.

 

Anmerkungen:

[1] Henning Lobin, Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert. Berlin: Dudenverlag, 2021.

[2] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin, Suhrkamp, 2017.

[3] Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Poltik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Berlin: Suhrkamp, 2019.

[4] Vgl. https://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland/.

[5] Liberal-intellektuelles Milieu: „Aufgeklärte Bildungselite: kritsche Weltsicht, liberale Grundhaltung und postmaterielle Wurzeln; Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstentfaltung“, ebd.

[6] Sozialökologisches Milieu: „Engagiert gesellschaftskritisches Milieu mit normativen Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Leben: ausgeprägtes ökologisches und soziales Gewissen; Globalisierungs-Skeptiker, Vorkämpfer für diskriminierungsfreie Verhältnisse und Diversität“, ebd.

[7] Konservativ-etabliertes Milieu: „Das klassische Establishment: Verantwortungs- und Erfolgethik; Exklusivitäts- und Führungsansprüche; Standesbewusstsein; zunehmender Wunsch nach Ordnung und Balance“, ebd.

[8] Traditionelles Milieu: „Die Sicherheit und Ordnung liebende ältere Generation: verhaftet in der alten kleinbürgerlichen Welt bzw. in der traditionellen Arbeiterkultur; Sparsamkeit und Anpassung an die Notwendigkeiten; zunehmende Resignation und Gefühl des Abgehängtseins“, ebd.

[9] Bürgerliche Mitte: „Der leistungs- und anpassungsbereite bürgerliche Mainstream: generelle Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung; Wunsch nach beruflicher und sozialer Etablierung, nach gesicherten und harmonischen Verhältnissen; wachsende Überforderung und Abstiegsängste“, ebd.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

27 Kommentare

  1. Sehr guter Beitrag, der nach dem Warum, nach dem Hintergrund einer kulturellen Differenzierung in der gesamten westlichen Welt frägt.

    Es geht also um zwei neu sich immer mehr füllende Blasen/Sphären in denen Menschen kulturell beheimatet sind, es geht um eine Hyperkultur versus einen Kulturessenzialismus, um eine Differenzierung der Mittelschicht in eine Gruppe von Urban-global Fühlenden und eine Gruppe von Suburban-/kleinstädtisch/ländlich Orientierten. Die Urbanen frönen dem Fetisch der Selbstverwirklichung (Udo Lindenberg:“Mach dein Ding“) und sind damit die wahre Inkarnation des spätkapitalistischen Bürgers während die Kulturessenzialisten, die Immobilen, sich in einem Abwehrkampf gegen die Hyerpermobilen/Nicht-Lokalen befinden und ihren Besitz, ihre „Immobilien“ gegen Entwertung verteidigen.

    Interessant an dieser Diagnose der Aufteilung der kulturellen Sphären in zwei Typen von Mittelstandsmenschen ist vieles, such folgendes: es handelt sich um ein global-westliches Phänomen, das die USA genau so wie Deutschland und damit Europa betrifft. Interessant auch, dass man in den USA vom Gegensatz zwischen Republikanern und Demokraten sprechen würde. Interessant auch, dass auch die Bewegung der politischen Korrektheit und das identitäre Denken ihren Ursprung in den USA haben. Man kann ohne weiteres diagnostizieren, dass die westliche Welt heute noch stärker von Entwicklungen in den USA bestimmt wird als das in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Fall war. Und in den USA scheinen die kulturellen Vordenker der gesamten westlichen Welt ihre Heimat im geistigen Umfeld von Stanford zu haben. Die von Henning Lobing genannte „Hyperkultur“ hat jedenfalls dort ihren Ursprung und die Gegenkultur ist nichts anderes als eine Gegenbewegung ähnlich wie es die Gegenreformation zur Zeit der konfessionellen Spaltung der westlichen Welt war.

    • Kleiner Gag am Rande, Herr “Holzherr” (die doppelten Anführungszeichen nur deswegen, weil Sie ein als solches unerkennbares Pseudonym nutzen), hierzu :

      Interessant auch, dass auch die Bewegung der politischen Korrektheit und das identitäre Denken ihren Ursprung in den USA haben.

      Dr. Webbaer rannte irgendwann Anfang der Neunziger in den Staaten herum, weil er dort zu tun hatte, und irgendwann fielen ihm bestimmte Demonstrationen auf, auch die dort verwendeten Slogans, einer lautete “Hate-Speech is no free speech!”, worüber arg geschmunzelt worden ist, doch die Idee blieb im Hinterkopf, diese Idee : ‘Was werden die Deutschen aus derartigem Kulturmarxismus [1] machen, wenn sie ihn angenommen haben?’

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

      [1]
      Dr. Webbaer bezeichnet die hier gemeinte politische Einstellung als Kulturmarxismus, weil er Adorno und Genossen noch gut mit derartigen Verrenkungen in Erinnerung hat, andere reden von “Kulturlinken”, von “Neulinken”, von “Gefühlslinken” und seit Sahra Wagenknecht, harhar, von “Lifestyle-Linken”, statt von Kulturmarxisten.
      Der Begriff des Kulturmarxismus, Gramsci und so, aber auch Mao und Trotsky irgendwie meinend, permanente Revolution und so, ist wohl mittlerweile antiquiert.

  2. Lebt Herr Reckwitz auf dem Mond?
    In den Innenstädten sind über 30 % der Bewohner Menschen mit Migrationshintergrund.
    Die kämpfen mit der deutschen Sprache. Die Jugendlichen vermeiden Präpositionen, weil sie überflüssig sind, Beispiel : „Gehn wir Aldi. „
    Im Kindergarten kämpfen die Kindergärtnerinnen mit der Sprache, die sind oft auch mit Migrationshintergrund. Und die wenigen deutschen Kinder lernen kein richtige Deutsch mehr , weil ihr Anteil nur noch 25 % beträgt.

    Und die Musik der Jugendlichen ist zum Großteil aus dem englisch sprachigen Raum. Die interessiert die Gendersprache nicht. Die interessiert die AfD Forderungen nicht.

    • @hwied: Wenig Gebildete gehören zur Hyperkultur etwa so wie der Haushund auch Teil der Familie sein kann (und heute vielleicht sogar eine Hüftoperation oder eine Krebstherapie erhält). Das heisst, wenig Integrierte mit Migrationshintergrund werden von den Mittelschichtlern und Akademikern, die sich zur Hyperkultur zugehörig fühlen, als Zugehörige akzeptiert wobei man über ihre Schwächen hinwegsieht und die eigenen Kinder wenn immer möglich nicht in die gleiche Schule schickt.

      Konkret: Ich wohne in einer mittelgrossen Stadt wo die Bessergestellten, sich alternativ gebenden Bürger in einem Quartier wohnen, wo sie weitgehend unter sich sind. Diese sich alternativ und aufgeschlossen gebenden bekunden Sympathien mit Migranten/Fremden, würden ihre Kinder aber nie in die gleiche Schule schicken.

  3. M.Holzherr
    Mit dem Hinweis auf die tatsächlichen Sprachprobleme der Menschen mit Migrationshintergrund wollte ich darauf hinweisen, dass die „Hyperkultur“ nur Luxusprobleme hat.
    Die Mittelschicht, die ich kenne , die sind fest kulturell verhaftet und die pflegen ihre Kultur, die schwätze Schwäbisch. Das ist eine geschlossene Gewellschaft. Die feiern die alemannische Fasnet und die fühlen sich mit den Alemannen auch des schweizer Raumes verbunden.
    Das ist vergleichbar mit den Bayern, die es sogar zum Freistaat geschafft haben.

    • @hwied: Ja, Hyperkultur ist weniger Realität als vielmehr ein neuer Trend, eine Strömung, der aber die Mittelschicht, von der sie sprechen, ausgesetzt ist und wo vor allem ein wichtiger Teil der jungen Generation bereit ist einzusteigen. Die junge Generation wird wohl auch wegen dem moralischen Anspruch, der mit der Hyperkultur, der politischen Korrektheit, der gendergerechten Ansprache, dem Antirassismus und Antisexismus verbunden ist, angesprochen, denn junge Menschen sind häufiger idealistisch eingestellt als Ältere und wollen auch häufiger die Welt verbessern.

      Ein Teil dessen, was Andreas Reckwitz beschreibt ist für mich ein Phänomen, das den gesamten Westen betrifft und wo Deutschland in den Schlepptau einer Bewegung gerät, die ihre Ursprünge auf dem Campus von US-Unis hat. In den USA ist die Kultur der politischen Korrektheit samt all dem was dazugehört mindestens schon 30 Jahre alt und es gibt keine Hinweise auf einen Rückgang oder auf ein Einschlafen dieser Stossrichtung. Im Gegenteil: inzwischen spürt sogar die New York Times über ihre Jungjournalisten eine Veränderung der Toleranzschwelle dessen was gesagt werden kann. So wurde kürzlich ein verdienter Redaktor der New York Times entlassen, weil der das N-Wort in einem Zitat fallen liess und nicht etwa weil er das N-Wort direkt verwendete.

      Doch politische Korrektheit, Gerechtigkeitssinn, Antirassismus, Antisexismus und Identitäten-Schutz ist nur ein Teil dessen was Andreas Reckwitz anspricht. Ein anderer wichtiger Teil ist die Idee der Selbstverwirklichung, der Internationalität und der Flexibilität und das Selbstbild das dazu gehört. Internationalität und Flexibilität bedeutet im Zusammenhang mit der Sprache und beispielsweise dem Gendern, dass man sich dem nicht verschliessen will. Nur schon, weil es sonst vorbei wäre mit der Internationalität und man unfreiwillig beweisen würde, dass man halt doch ein Provinztrottel ist.

      Interessant ist folgender Punkt: Die deutsche Sprache wird dem Anspruch an Internationalität, Flexibilität und Inklusivität nicht gerecht. Im Englischen ist genderneutrales formulieren kein Problem. Das einzige was Englischsprachige lernen mussten um genderneutral zu sprechen, war es, bestimmte Wörter zu meiden. Beispielsweise spricht man im englischen Sprachraum nur noch selten von actress sondern verwendet nur noch actor? Mit andern Worten: Im Englischen wurde die Sprechweise generischer und das ist im Englischen überhaupt kein Problem, denn geschlechtsspezifische Personen- und Berufsbezeichnungen sind im anglo-amerikanischen Sprachraum sowieso die Ausnahme. Wer doctor sagt, lässt das Geschlecht offen. Ganz anders im Deutschen. Bei Arzt denkt man tendenziell an einen Mann und tatsächlich hat der Duden nun einen eigenen Eintrag für Arzt und Ärztin und erwähnt explizit, dass ein Arzt ein Mann sei. Also muss man im Deutschen nun von Arzt und Ärztin sprechen um beide Geschlechter einzuschliessen. Doch damit haben wir bereits den nächsten Stolperstein, denn warum soll das Geschlecht beim Beruf des Medikus überhaupt eine Rolle spielen und zudem: gibt es nicht auch noch ein drittes oder vielleicht sogar noch mehr Geschlechter? Womit wir dann bei Ärzt*in angekommen sind. Ich denke aber Gendersternchen können nur eine Zwischenlösung sein. Wenn schon braucht die deutsche Sprache eine echt genderneutrale Ansprache, eine, die nahtlos in die Sprache passt und zudem kurz und geläufig ist.

      In letzter Konsequenz könnte man den Anspruch an Internationalität aber auch dadurch einlösen, dass man die deutsche Sprache aufgibt und zum westlich-internationalen Englisch wechselt. Früher hatten in Deutschland die meisten Regionen ihren eigenen Dialekt. Heute wird in vielen Regionen dagegen Hochdeutsch gesprochen. Irgendwann könnte dann Englisch die Hochsprache sein und Hochdeutsch der Dialekt – der Dialekt, den die lokal Orientierten, denen die Hyperkultur fehlt, sprechen.

      • @ Martin Holzherr

        Es ist in der Tat typisch für die Deutschen, dass sie auf der Suche nach einer genderneutralen Sprache ausgerechnet bei der bürokratischsten Lösung landen und die Benutzung der Substantive komplizierter machen – statt die Artikel zu neutralisieren und (wie im Englischen) einfach nur noch ein Form des Substantivs zu verwenden. Man könnte z.B. sagen “Ich bin ne Arzt”, “Da kommt de Arzt”. Der historische Ballast “ein/eine” bzw. “der/die” würde wegfallen und Deutsch würde etwas holländischer klingen.

        Sprachverwender tendieren dazu, Sprache immer bequemer zu machen. Die Gendersternchen werden sich darum niemals durchsetzen. Wie Sie schreiben ist es auch völlig widersinnig, jetzt mit sprachbürokratischen Mitteln im Kampf für mehr Geschlechtsneutralität ausgerechnet das Geschlecht betonen zu müssen.

        • Aus diesseitiger Sicht würde so die Ablehnung des “sozialingenieurshaften” politisch linken sprachlichen Gesamtvorhabens nur zunehmen :

          Man könnte z.B. sagen “Ich bin ne Arzt”, “Da kommt de Arzt”. Der historische Ballast “ein/eine” bzw. “der/die” würde wegfallen und Deutsch würde etwas holländischer klingen.

          ‘Ich bin Arzt’ geht und ging übrigens immer als Aussage.
          Schmunzel.

          Mit freundlichen Grüßen
          Dr. Webbaer (der schon eine Logik (Was sonst, wenn schon hier so mitgemacht wird?) im u.a. von Herrn Dr. Lobin unterstützten “Genderungs-Gesamtvorhaben” sieht, nur wegen der so erforderlichen Sexualisierung der Sprache [1] und wegen des so entstehenden Aufwandes nicht mitgeht)

          [1]
          Es ist oft schlicht irrelevant, ob eine Person männlich oder weiblich ist, wenn sie etwas tut, Versuche hier die Sexus-Benennung, die Sexus-Markierung pflichtig zu machen bedeutet u.a. Redundanz, also sprachliche Mehrarbeit, was stört, wenn die Sprache doch selbst schon so-o schwierig ist)

      • Ist so nicht ganz richtig, Herr “Holzherr” :

        Die deutsche Sprache wird dem Anspruch an Internationalität, Flexibilität und Inklusivität nicht gerecht. Im Englischen ist genderneutrales formulieren kein Problem. Das einzige was Englischsprachige lernen mussten um genderneutral zu sprechen, war es, bestimmte Wörter zu meiden.

        Wir gucken zum Beispiel auf die Personalpronomina, vergleiche :

        -> https://uwm.edu/lgbtrc/support/gender-pronouns (die Quelle ist nicht geprüft worden, die Idee ist aber korrekt wiedergegeben)

        K-Probe :

        HE/SHE HIM/HER HIS/HER HIS/HERS HIMSELF/HERSELF
        zie zim zir zis zieself
        sie sie hir hirs hirself
        ey em eir eirs eirself
        ve ver vis vers verself
        tey ter tem ters terself
        e em eir eirs emself

        Es geht dann auch so, dass sich Personen mit (!) ihren aktuell (!) verwendeten Personalpronomen vorstellen, durchaus auch in der Erwartung, dass sie sich ändern werden und der sie Ansprechende so folgt, zu folgen hat, folgen muss.
        Dies ist bereits heutzutage Praxis in den Staaten!

        In der deutschen Sprache hat der “Genderist” hier noch die sozusagen wundervolle Möglichkeit Tätigkeits- und Berufsbezeichnungen auf einen Genus zurückzuführen, der nicht dem Sexus entsprechen muss.
        Deutsch kann hier sozusagen noch ganz besonders aufgesteift werden.

        Hier, bei : ‘Das einzige was Englischsprachige lernen mussten um genderneutral zu sprechen, war es, bestimmte Wörter zu meiden.’, würde Dr. Webbaer schon eine Forderung, einen Machtanspruch sehen wollen, denn die Herrschaft über die Bedeutung und insbesondere Konnotation (“gut oder böse”) liegt vor, dieser Machtanspruch bedeutet aus diesseitiger Sicht auch in englischer Sprache einen illegitimen Herrschaftsanspruch.
        Der keine Kleinigkeit ist.

        Viele verstehen den “Genderismus” als nett, so i.p. Toleranz also auszuhalten und vielleicht gar zu promovieren, dies ist aus diesseitiger Sicht nicht der Fall.

        Es wird, Dr. Webbaer erlaubt sich diese Prädiktion, aus den noch losen “genderistischen” Regelmengen, die sukzessive in den öffentlichen Gebrauch, auch in den der staatlichen Pflege einfließen, in die Rechtspflege, in nicht ferner Zukunft ein Rechtsanspruch, auch ein Strafttatbestand ergeben.
        Leutz, die nicht “gendern” wollen oder gar können, werden dann blöd gucken.

        Insgesamt findet der Schreiber dieser Zeilen in der vom Rezensierten behaupteten “neuen Mittelklasse” zuvörderst Geisteswissenschaftler, teils auch, Dr. Webbaer will es klar ausschreiben, akademisches Prekariat, das in früherer Zeit nicht zu wie gemeinter Ausbildung gelangt wäre.

        Auf der anderen Seite stehen aus seiner Sicht eher die Nettosteuerzahler, die MINT-Kräfte der Academia auch, aber auch der Eigenständige, der mit Bildung vielleicht nur aus dem Handwerk zu tun hatte, durchaus erfolgreich und vom Schreiber dieser Zeilen hoch geschätzt.

        Dr. Webbaer will nicht versäumen die wissenschaftliche oder “wissenschaftliche” Basis des Gesamtvorhabens, die heutzutage nicht mehr schlicht, wie dies der Schreiber dieser Zeilen an anderer Stelle getan hat, dem Neomarxismus zuzuordnen ist, in ihrem Zweig wie folgt webzuverweisen :

        -> https://en.wikipedia.org/wiki/Feminist_anthropology (“Groß im Kommen” – ein sog. Lemma steht d-sprachig in der bekannten Online-Enzyklopädie noch nicht bereit)

        Mit freundlichen Grüßen
        Dr. Webbaer

      • Martin Holzherr
        17.05.2021, 18:31 Uhr

        Bei Arzt denkt man tendenziell an einen Mann und tatsächlich hat der Duden nun einen eigenen Eintrag für Arzt und Ärztin und erwähnt explizit, dass ein Arzt ein Mann sei. Also muss man im Deutschen nun von Arzt und Ärztin sprechen um beide Geschlechter einzuschliessen. Doch damit haben wir bereits den nächsten Stolperstein, denn warum soll das Geschlecht beim Beruf des Medikus überhaupt eine Rolle spielen und zudem: gibt es nicht auch noch ein drittes oder vielleicht sogar noch mehr Geschlechter? Womit wir dann bei Ärzt*in angekommen sind.

        Und genau Ihre Ausführungen beschreiben das Dilemma:
        Wo man in anderen Sprachen “Doktor” sagt, meinen wir allen Ernstes, um der vorgeblichen Gleichheit willen, genau bezeichnen zu müssen, wes Geschlechtes der “Doktor” nun sei – und dann verkrampfen wir uns in absurden Neuschöpfungen.
        “My fellow citizen” reicht völlig aus, die “lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger” anszusprechen und alle fühlen sich gemeint und kein (m/w/d/x) fühlt sich ausgeschlossen.
        Wie wäre es, wenn wir den Eifer, den wir auf die Wortbürokratie des genderns anwenden, dahin benutzen würden, uns klarzumachen, dass “Arzt” und “Pilot” jeweils eine Person ist, die eine spezielle Tätigkeit an uns und für uns ausübt?
        Warum wollen wir erst mal akribisch trennen, unter dem Vorwand, hinterher alles gleich zu haben?

  4. @ Tim

    Ja, das hab’ ich auch schon gehört, das hat man sich schon in den 80ern erzählt: de Mann, de Frau, de Kind. Ist jetzt bald vierzig Jahre her, hat sich nicht durchgesetzt. Es heißt immer, Sprache entwickelt sich, aber mir will scheinen, daß man dazu die Geduld nicht hat. Irgendeine weiß-nicht-wer-Gruppierung will es derzeit über das Knie brechen. Erst kam die unselige Rechtschreibreform, die keiner braucht und jetzt wird auf Teufel komm raus gegendert. Ich hab’s schon einmal gesagt: einfach die nächsten tausend Jahre generell die weibliche Form verwenden. Dann kann man sich das mit Sternchen, Schrägstrichen und Doppelpunkten sparen. Ich bin mir sicher, die Männer bekommen das hin, sich dennoch angesprochen zu fühlen. Nach weiteren tausend Jahren wird dann wieder gewechselt. *gähn*

  5. Herr Holzherr,
    erst mal Danke für die ausführliche Analyse. Im Grunde stimme ich damit überein, es sind nur noch Ergänzungen notwendig, Ergänzungen, die aber immer wichtiger werden.
    Sprache ist der Ausdruck einer Kultur und dabei gibt es Einiges zu kritisieren.
    1. Der Umfang bei Vertragstexten. Der hat bei den sozialen Medien die 1000er Grenze überschritten, 1000 Seiten sind gemeint, wer kann das noch lesen.
    2. Der Gebrauch von Fremdworten bzw. Fachbegriffen bei Vertragstexten der Krankenversicherungen. Der Kunde versteht die Texte nicht mehr.
    3. Der Gebrauch der Sprache im web. Will man die Halbgebildeten ausschließen oder warum muss man die Texte 3x lesen ums sie zu verstehen.

    Bei der Form der Sprache, da hat sich leider die Unsitte breit gemacht, den Gesprächspartner zu beleidigen. Frauen sind da besonders betroffen, die bleiben dann einfach weg.
    Als Mann kann man dagegenhalten, macht auf Dauer aber keinen Spaß.
    Die Dudenredaktion nimmt neue Worte auf, streicht alte wenig gebrauchte, ändert grammatikalische Formen behutsam, die macht es richtig. Der Zeitungsleser entscheidet mit, wie Sprache aussehen soll.

    Von einer Anglisierung der Sprache rate ich ab. Deutsch ist noch relativ einfach, in den slawischen Sprachen gibt es bis zu 7 Fälle, was sie Sätze etwas länger macht, aber dafür die Anzahl der Sätze verringert.
    Man lese auch mal Gedichte in türkisch, japanisch ,arabisch, Das Gefühl für die Schönheit einer Sprache darf auf keinen Fall verloren gehen.

    • @hwied (Zitat):

      1. Der Umfang bei Vertragstexten. Der hat bei den sozialen Medien die 1000er Grenze überschritten, 1000 Seiten sind gemeint, wer kann das noch lesen.
      2. Der Gebrauch von Fremdworten bzw. Fachbegriffen bei Vertragstexten der Krankenversicherungen.

      Vertragstexte und Fachbegriffe sind einem legalistischen Denken zu verdanken: man will sich absichern.

      Tatsächlich führt das oft zu einer für den Laien nicht mehr bewältigbaren Komplexität/Vertracktheit.
      Deshalb etwa brauchen immer mehr Leute/Firmen einen Steuerberater, denn nur ein Steuerberater sieht noch durch.

      Ganze Berufssparten basieren heute auf eigentlich unnötiger Komplexität.

      • Ganze Berufssparten basieren heute auf eigentlich unnötiger Komplexität.

        Wobei sich bei zunehmender Komplexität und Unüberschaubarkeit schnell die Frage nach der Legitimität des Staates stellt. Das alte Prinzip “Gesetze muss man befolgen, auch wenn man sie nicht versteht” war schon immer albern, in unserer vollkommen durchtechnokratisierten Welt kann man das staatliche Gewaltmonopol so schon längst nicht mehr legitimieren.

        Komplexe und zunehmend heterogene Gesellschaften brauchen einfache Regeln.

  6. Sicherlich eine nette Buchempfehlung,
    Dr. Webbaer zieht liberale Gesellschaftsanalyse vor.
    Hier :

    Womit ich mich aber nicht befasst habe, ist die Frage, auf welcher gesellschaftlichen Grundlage diese politischen Prozesse eigentlich stattfinden.

    … wäre womöglich die Fachkraft, der Linguist, gefordert gewesen sich bspw. über die “Neue Rechte”, die politisch liberale und sozusagen traditionelle politische konservative Meinung nicht einschließen muss, oft auch nicht tut, klar zu werden und dann eingeladen passend(er) zuzuordnen.

    Der Schreiber dieser Zeilen hat sich jedenfalls notiert, dass der werte hiesige Inhaltegeber offen politisch Position bezogen hat und sozusagen Political Player geworden ist, Stakeholder sozusagen im politischen Geschäft.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (der immer noch, harhar, der Meinung ist, dass das Genus in der deutschen Sprache nicht den Sexus meint und auch nicht meinen sollte)

  7. Dr. Webbaer,
    “Es ist oft schlicht irrelevant, ob eine Person männlich oder weiblich ist, wenn sie etwas tut,”
    Das kann nur ein Mann behaupten. Frauen verdienen bei gleicher Arbeit weniger.
    Ansonsten Zustimmung . Deutsch macht feine Unterscheidungen, die im Englischen verloren gehen.
    Es ist ein Witz der Geschichte, dass ein Land wie die USA auf political correctness achtet, im Praktischen aber die Schwarzen immer noch wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Wir haben selbst Verwandtschaft in New York, Farbige, die Benachteiligung der Farbigen ist in New York mit Händen greifbar.

    • Ihre beiden Behauptungen über Fraueneinkommen und Benachteiligung von Schwarzen in den USA bleiben belegfähig.

      Aber hier mal ein Beispiel :
      Ihr (kleiner) Enkel ruft Ihnen zu “Vorsicht, da hinten will ein Fußgänger über die Fahrbahn!”, Sie sitzen im Auto und nehmen die Warnung zur Kenntnis, Sie denken in diesem Moment nicht darüber nach, ob die gemeinte Person männlich oder weiblich ist (oder gar sich deviant “neuen Geschlechts” zuordnet), weil dies nicht relevant ist.

      Ich vermute, dass man an Minderleistungen der liberalen Demokratie glauben muss, was Benachteiligung von biologisch bestimmbaren Gruppen betrifft, wenn man die Sprache wie vorgeschlagen ändern will; es könnte dann eine grundsätzliche Demokratie-Skepsis vorliegen, der Hang zu kollektivistisch-autoritärem, erzieherischen Denken, der nicht demokratisch ist.

  8. Müsste ein Blöd-Satz sein, Dr. Webbaer hat zigfach (!) versucht in seinen Sinn einzudringen, in an­ti­zi­pa­to­rischer Haltung :

    -> ‘Es stehen sich ganze Milieus gegenüber, Teile der gesellschaftlich dominierenden Mittelklasse, die sich in ihrer Verbitterung aufgrund ihres kulturellen und ökonomischen Abstiegs einerseits und in ihrem stolzen Selbstbewusstsein, das Neue und Gerechte auf der eigenen Seite zu wissen, andererseits einen exemplarischen Entscheidungskampf um die kulturelle Vorherrschaft in einer zukünftigen Gesellschaft liefern.’ [Artikeltext]

    Dr. W will nur so festgestellt haben.
    Nicht unbedingt erheblich.

    MFG
    Wb

  9. @ Dietmar Hilsebein
    17.05.2021, 22:47 Uhr

    @ Tim

    Erst kam die unselige Rechtschreibreform, die keiner braucht[e]

    Diese Rechtschreibreform brauchten Strategen, die treffsicher unterscheiden können wollten, wer gerade angesichts des Kernszenarios oben ( neuen und alten Mittelklasse / Denkweise oder Identität) zu wem gehört. Das ist dem Normalmenschen eher egal und unwichtig. Aber wenn man aktive Populationsformung betreiben will, muß man solche Eigenheiten kennen.

    Ansonsten können sie mi tihrem “Entgegenkommen”

    einfach die nächsten tausend Jahre generell die weibliche Form verwenden

    werden sie keineN genderbewegten begeistern können. Und schon gar nicht, wenn sie das in tausend Jahren wieder andersum kommen sehen (erhoffen?).

    Das viele sich daran stören, einfach ab nun immer die weibliche version verwenden zu sollen, zeigt natürlich auf, wie seltsam das gemenge ist. Und wie empfindlich auf die Ignoranz gegenüber der identität reagiert werden kann – was nur verständlich ist. Allerdings wird hier einiges über dramatisiert. Und die Aufoktroyierung der Gendergerechten Sprache auch in Subkulturen und in die Umgangssrprache ist dann auch Zeugnis des missionarischen Eifers, der dabei entstehen kann.
    Ausserdem, wo doch diese Unterscheidung zwischen männlich und weiblich durchaus der gute Ton (“Meine Damen und Herren…”) und durchaus üblich im Offiziellen ist.

    Problematisch wird es, wenn Menschen etwas verlangen, was sie laut Ansicht von Kuklturtraditionalisten sich nicht verdient haben. Und da ist auch die Unterteilung zwischen der Nachrkiegskultur als Arbeitskultur und der modernen, urbanen intellektuellen-Kultur relevant. Was haben die Neo-Intellektuellen denn schon getan, dass sie solche Ansprüche stellen zu dürfen meinen? Keinb Lebenswerk, nichts praktisches gelernt, Uni-Wissen als Fundament der Weltkenntnis und Verarbeitung… alkles seh rschlechte Vorraussetzungen dafür, die Welt zu erklären, wie sie sein sollte, ohne, das man die Härte der Welt auch selbst gespührt hat..nämlich bei der Aufbauarbeit des Nachkriegsdeutschlands oder einer eigenen Existenz. Dumm nur, das der Aufbau der eigenen Existenz dann viel leichter fällt, wenn sowieso alles am Bodenliegt, als wenn man in eine Welt geworfen wird, die keinen Platz für einen hat. In der Nachkriegszeit wurde jeder gebraucht, heute hat man in einer Welt der Vollständigkeit (Sättigungskrise) kaum eine Chance auf Beweis der Rechtfertigung auf Anerkennung. Und schon deswegen ist die ganze Identitäts-Ideologie eine Art Ausweich-Aktionismus, weil man sonst nichts mehr in der Gesellschaft beweisen kann. Immerhin ist alles da, was gebraucht wird und neue Menschen sind dann nicht Teil der Gesellschaft, sondern “Konsumenten” oder Humankapital oder sonstwas, aber eben keine gleichberchtigten Mitglieder der Gesellschaft. Womit sollten sie ihre Berechtigung auch beweisen, wenn die strukturelle Formierung der Nationalen Gesellschaftsorganisation vollständig ist?

    Das selbst akademische Ausbildung neuerdings nur rudimentäre Anerkennung einbrint, weil… eh schon alles da ist und man nicht neuen Intellekt braucht, sondern nur “Nachfolger” des Bestehenden, war schon immer ein Problem der Nachfolgenden. Und ist es ganz besonders dann, wenn keine Sättigung besteht, wie in der Nachkriegszeit, was seit den 1968´gern dann deutlich sichtbar wurde und durchaus Erfolg hatte (Marsch durch die Institutionen). Das war nicht “erzwungen”, sondern unausweichlich, weil es tatsächlich einen Mangel gab (an akademischen Fachpersonals und disziplinärer Erweiterung und Vertiefung. Das ist heute nur rudimentär der Fall, trotzdem man gerade in eienr Krise der Wissenschaft steckt, weil die erkenntnisse durch die Erweiterung der Fachtiefe und Bandbreite zu nahezu exponentiellen Anhäufungen von Daten und Forschungsbereichen führte, die verarbeitet werden wollen. Das Lösungskonzept sieht tendenziel aber leider nicht vor, Menschen damit zu betrauen, sondern Maschinen und Algorithmen.

    Es muß vermutet werden, das an dieser Strategie die Fähigkeit der Menschen, sich zu produktiven Sinn- und Zweckgemeinschaften zu organisieren, schweren Schaden nehmen wird, weil .. der Algorithmus wirds schon machen und die Menschen bemühern sich dann auch nicht mehr, es zu versuchen.

    Aber das ist leider auch typische neoliberale Ideeologie, das man die menschliche Ineffiziens und ineffektivität leider zum Anlass nimmt, den Menschen aus der Organisation der Gemeiscnhaft ausschliesst – was absurd ist, wenn man bedenkt, das wir in dieser Welt leben wollen….sie aber nicht mehr von Menschen gestalten und organisieren lassen wollen.

    Dabei ist das Problem, das die technischen Möglichkeiten diese “Ineffiziens” nur noch vergrößern und wenn man nicht dagegensteuert, indem man Menschen weiterhin trotz wirtschaftlicher und pragmatischer “Ineffiziens” in diese Entstehungsprozesse involviert, wird es nie besser werden und irgendwann wäre gar nichts mehr zu retten.

    So, wenn Identität alles ist, was bleibt, weil der ganze Rest der einst zivilisatorischen Imperative keinen Wert mehr besitzt oder wenn kein Platz für die nachfolgene Generation da ist, dann braucht man sich über solche überideologisierten Entwicklungen nicht zu wundern. Den Menschen bleibt keine Wahl, als ihre Existenz wenigstens durch ideeller Rechtfertigung zu stärken/behaupten.

  10. Sprachkämpfe, allen voran derjenige um gendergerechte Sprache, sind vor diesem Hintergrund weniger als politische Auseinandersetzungen zu verstehen, sondern als symbolische Hegemonialkämpfe zwischen einer alten und einer neuen Mittelklasse.

    Mir fällt dazu ad hoc aus dem Geschichtsunterricht “hie Stauf – hie Welf” ein, in England der Rosenkrieg ( rot gegen weiß ), später die Religionskriege …

    Wir sind da heute ( noch ) gesitteter, wir schlagen uns ( noch ) nicht die Köpfe ein, wir ziehen Grenzen zwischen “gut” und “böse” durch die Sprache und Codes, die nur der jeweils Eingeweihte “richtig” versteht.

    Was aber geht in unserer gesellschaft vor, dass wir uns trennen wollen und nicht mehr einig sein können?
    Gemeinsame Aufgaben gäbe es genug, wir müssen nur anfangen, stattdessen verschanzen wir uns in unseren Wortburgen.

    • Sprachkämpfe, allen voran derjenige um gendergerechte Sprache, sind vor diesem Hintergrund weniger als politische Auseinandersetzungen zu verstehen, sondern als symbolische Hegemonialkämpfe zwischen einer alten und einer neuen Mittelklasse.

      Wie es auch gedreht wird, es bleibt politisch.

      (Die Politik meint übrigens die Polis, die Städtewerdung und Sesshaftwerdung, die bestimmte Regelungen, auch das Ständewesen und eine Öffentlichkeit vorgebracht hat, die nicht von irgendwelchen Nomadenführern durch “Machtwort”, hier liegt dann ein sehr ernst gemeintes Wort vor, unterbunden werden kann, weil offensichtlich der Komplexität in neuem Sozialwesen geschuldet bestimmte Auseinandersetzung der Personen, dann Bürger notwendig wird.)

  11. Dr. Webbaer,
    überlassen wir es der Öffentlichkeit, ob sich der Genderstern durchsetzt.
    Da 95% des Geschriebenen mit Computern geschrieben wird, könnte man doch einfach die Rechtschreibprüfung derart erweitern, dass bei Berufsbezeichnungen automatisch der Genderstern eingefügt wird.
    Aus Ausgleich sollte man diese Funktion abschalten können.
    Persönliche Meinung: Es wäre besser, Frauen in der Berufspraxis gleich zu entlohnen wie die Männer, anstatt alle mit dem Genderstern zu plagen.

  12. Andreas Reckwitz hat bei der Zeit.de ein wenig geredet, die meisten Texte stehen hinter einer sogenannten Bezahlschranke.

    Bei diesem Text, der dankenswerterweise kostenfrei zV steht, kristallisiert sich womöglich grundsätzliche Bemühung Reckwitz’ heraus :

    -> https://www.zeit.de/2019/47/liberalismus-regulierungen-dynamisierung-demokratie-nationaloekonomie (K-Probe : ‘Welche neuen Lösungen bieten sich dem Spektrum der liberal-demokratischen Parteien, das von den Sozialdemokraten und Grünen bis zu den Liberal-Konservativen reicht?’)

    Aus diesseitiger Sicht gibt es einen grundlegenden Dissens zwischen Liberalen und Kollektivisten, die einen kümmern sich (theoretisch) um jeden Einzelnen, die anderen denken in Kollektiven und lassen gerne auch mal Kollektive fallen.
    Wie auch die Geschichte gelehrt hat.
    Sozialisten, Sozialdemokraten sind moderate Sozialisten, zweifelsfrei, die Beleglage ist klar, und Ökologisten sind in praxi Sozialisten, streben expertokratische Rätesysteme an, das Wahlprogramm der bundesdeutschen “Grünen” ist diesbezüglich klar.

    Auf den Inhalt der Nachrichten aus dem Hause Reckwitz kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, dennoch bleiben seine “linksliberalen” Ansätze fruchtlos, wenn er “liberal” desorientiert beschreibt.
    ‘Liberal’ ist Antonym zu ‘sozialistisch/kollektivistisch’.

    Liberale hantieren zudem auch nicht mit dem lieblosen Begriff ‘Kapitalismus’, wenn die Marktwirtschaft, idR die soziale, gemeint ist.
    ‘Kapitalismus’ ist ein Code für die anderen, sozusagen.

    Es gibt auch keine ‘postindustrielle’ Gesellschaft.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  13. @ Dr. Webbaer (Zitat): ‘Liberal’ ist Antonym zu ‘sozialistisch/kollektivistisch’.
    Wobei, die US-Republikaner beschimpfen die US-Demokraten oft als Liberale und meinen damit zugleich, dass sie Sozialisten seien. Sind die US-Demokraten im Durchschnitt sozialistisch eingestellt? Wohl nein, denn die US-Demokraten sind immer noch weniger staatsgläubig als ein bundesdeutscher CDU-Wähler im Durchschnitt und der durchschnittliche US-Demokrat hat nie das Vertrauen in die Gemeinschaft, auch Staatsgemeinschaft, die in Skandinavien verbreitet ist.

    Mit andern Worten: es gibt kulturelle Unterschiede, die sich nicht eindeutig auf politische Unterschiede reduzieren lassen.

    • Die US-Demokraten haben sich in den letzten Jahren ein wenig verändert, Sie haben natürlich recht, wenn sich US-Demokraten selbst als ‘Liberals’ bezeichnen, versus von den US-Republikanern so ‘beschimpft’ werden, immer mehr US-Demokraten bezeichnen sich nun aber richtigerweise als ‘Socialists’.
      Es sind halt ‘Sprachkämpfe’, Ekkehard Felder redet von ‘semantischen Wettkämpfen’, das Wort müsste OK sein.
      Als Liberaler finde ich es abär nicht gut, wenn sich politisch Linke als liberal bezeichnen. Die im Ostblock seinerzeit real existierenden Sozialisten meinten ja ‘demokratisch’ zu sein, im Sinne des demokratischen Sozialismus, auch dies müsste eine Fehleinschätzung gewesen sein.
      Und vielleicht vielleicht sind viele US-Demokraten heutzutage doch viel staatsgläubiger und politisch linker als heutige CDU-Wähler, könnte sein, oder?

  14. Der Gedanke drängt sich auf, dass die zu beobachtende Abnahme diskursiver Bindungskräfte innerhalb einer Gesellschaft/Sprachgemeinschaft mit den soziologisch beobachteten Tendenzen zu tun hat. Klassischerweise (etwa in Habermas’ Diskursethik) wird vorausgesetzt, die Diskursteilnehmer könnten sich mittels semantischer Aushandlungsprozesse auf einen Konsens einigen. Nachklassischerweise beruht ein Diskurs aber nicht nur auf geteiltem Wissen (Wahrheitssuche), sondern auch auf Machtfragen (Foucault). Um diese wird offenbar heutzutage in ‘Sprachkämpfen’ gerungen. Analog dazu sind die DIskursbeiträge weniger Sprechakte, in denen etwas behauptet und ggf. argumentativ belegt wird, sondern eher Sprechakte, in denen Affekte und Emotionen verbalisiert werden. Die Filterbubbles sind Ausdruck von externer Abgrenzung und interner Radikalisierung, oft genug aus Gründen der Selbstprofilierung innerhalb der eigenen peer group-Blase. Man adressiert (in seiner Teilöffentlichkeit) damit gar nicht so sehr den diskusiven Gegner (in dessen Teilöffentlichkeit), sondern die hypothetisch neutrale ‘Gesamtöffentlichkeit’, die man aktivieren will. Hilfreich bei diesen Filterbubbles ist zudem ein recht grobschlächtig verstandener Radikalkonstruktivismus.

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